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Die Türkei nach den Wahlen

Artikel verfasst von Martina Plum 

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Mittlerweile ist auf die Enttäuschung über die verlorenen Wahlen in der Türkei Wut gefolgt. Die Suche nach dem Schuldigen dauert an. Niemand hat die Verantwortung übernommen. 25 Millionen Oppositionswähler sind deprimiert, glauben nicht mehr an die Demokratie. Niemand kennt die Antwort auf die Frage: Warum verliert ein 6-Parteien-Bündnis gegen ein Ein-Mann-Regime? Das ist das bislang größte Bündnis mit sehr unterschiedlichen politischen Ausrichtungen, dass es jemals in der Türkei gegeben hat. Und dennoch hat es nicht ausgereicht.

Vergebliches Warten auf die Rückkehr zur Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit

Dabei ist die Antwort eigentlich einfach: Weil die von Erdogan geschaffenen Strukturen dem politischen Gegner keine Chancen lassen. Die Zeichen standen vor der Wahl im Mai auf Abwahl. Der Absturz der Lira, der Anstieg der Inflation, das Erdbeben 12 von 14 Meinungsumfragen sagten den Gewinn des Bündnisses voraus. Ein Schuldiger wurde schnell ausgemacht: Das sind die Medien. So berichtete das öffentlich rechtliche Fernsehen, der Sender TRT alleine 48 Stunden über Erdogan und der Oppositionsführer Kilicdaroglu erhielt nur 32 Minuten Sendezeit. Versuchten Kanäle objektiv zu berichten, dann wurden sie durch Strafen zum Schweigen gebracht. Der von Kemal Kilicdarogh versprochene neue Frühling ist nicht eingetroffen

Glaubensbekenntnis stärkt Erdogans weitere Herrschaft

Erdogan hat seiner Herrschaft weitere fünf Jahre hinzugefügt. Die Opposition hat sieben Parlamentswahlen, vier Kommunalwahlen, zwei Präsidentschaftswahlen und drei Volksabstimmungen verloren. Autokratie in der Legislative, Exekutive, Judikative und Medien gemeinsam regieren ist eine wirkliche Opposition nicht
möglich. Die Abwahl der Autokratie durch demokratische Wahlen ist schier unmöglich. Gewonnen hat er auch, weil er die Wahl schlicht zum Glaubensbekenntnis gemacht hat: »Der innere Feind sind die Ungläubigen, und der äußere Feind ist der Westen« sagt der Politikwissenschaftler Canver Anver. Erdogan selbst betonte
im Wahlkampf immer wieder: »Ich erhalte meine Befehle von Gott.«

Hauptgrund liegt in der Spaltung des LANDES

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Der Hauptgrund, so schreibt der Spiegel, warum auch diesmal die Demokratie wieder nicht gewonnen hat, liegt in der tiefen Spaltung des Landes in zwei etwa gleich starke Lager, die sie nicht überwinden konnte und die die Türkei teilt wie der Bosporus Europa von Asien. Die Angst der Türken vor einer schwachen Türkei ist immens und sehr groß. Der Grund: das Osmanische Reich zählte bis ins 17. Jahrhundert zu den größten Imperien. Es reichte im Westen von Gibraltar bis zum Kaspischen Meer im Osten. Vor 100 Jahren wurde es auf ein Stück Land in Anatolien zusammengeschrumpft. Das sitzt sehr tief nach wie vor in den Köpfen. Und das bedient Erdogan. Er verspricht den Menschen, dass er die Türkei wieder größer machen wird.

aBLEHNUNG UND vERACHTUNG DEMOKRATISCHER wERTE

Jetzt beruft er sich wieder auf den Willen der Nation, verfolgt aber weiterhin jeden als Terroristen, der ihn kritisiert. Und in Deutschland wird Erdogans Sieg enthusiastisch gefeiert von den Nachkommen der Menschen, die aus der Türkei zu uns gekommen sind. Die Autokorsos in den europäischen Städten sorgten für Empörung; Teilnehmer zeigten den Wolfsgruß, das Symbol der türkischen Nationalisten, die auch als Graue Wölfe bekannt sind. Der AKP-Abgeordnete Fatih Toprak hatte den Wahlkampf im Ausland organisiert. Mit einem großen türkischen Sieg soll das türkische Jahrhundert beginnen, schreibt er.

aUTOKORSOS - NICHT ZU ÜBERHÖRENDE Absage an pluralistische demokratie

Bundeswirtschaftsminister Cem Özdemir meldet sich zu Wort: »Die Autokorsos sind keine Feiern harmloser Anhänger eines etwas autoritären Politikers. Sie sind eine nicht zu überhörende Absage an unsere pluralistische Demokratie und Zeugnis unseres Scheiterns. Übersehen geht nicht mehr.« Prof. Bura Copur, Türkei-Forscher aus Essen wird noch deutlicher: »Die Autokorsos in Deutschland sind auch ein Ausdruck der Ablehnung und Verachtung demokratischer Werte und Normen. Wer als Politiker mit der Ditib und der AKP-Lobbyorganisation UID kuschelt und diese damit hoffähig macht oder als Stadt Köln die Aufstellung des Völkermords an den Armeniern verhindert und damit vor den türkischen Nationalisten und Islamisten einknickt, muss sich über diese einem Diktator huldigenden Erdogan-Anhänger auf deutschem Boden nicht wundern. Das sind keine feiernden Folkloreanhänger, sondern besorgniserregende türkische Reichsbürger.«

Der Starke, der dem Westen die Stirn bietet

Erdogan ist der Macher, er inszeniert sich selbst als der Starke, der dem Westen die Stirn bietet. Das, so scheint es, lohnen ihm vor allem die im Westen lebenden Wähler. Bei seinen hiesigen Fans hat er 67,4 % der Stimmen bekommen. In Deutschland sind es 1,5 Millionen türkische Wahlberechtigte, sie machen 2,3 % aller türkischen Wähler aus. Er füllt ein Vakuum. Durch ihn erhalten viele wieder das Gefühl, wir sind wieder wer. Viele, die bei uns leben und arbeiten, deren Ursprungsfamilien kommen aus dem konservativ religiös Anatolien, bei vielen jüngeren Menschen, die Erdogan wählen, ist es eine Art Trotzhaltung für all die verletzenden Erfahrungen, die sie haben machen müssen. Erdogan »… erkennt sie als Türken, als Moslems und betont ihre Zugehörigkeit zur Türkei, (spricht) ihre Herzen an« so Yunus Ulusoy vom Zentrum für Türkeistudien in Essen. Die familiären Bindungen in die zentrale Türkei und in die Schwarzmeerregion bleibe bei vielen
Familie sehr stark. Und das, obwohl viele das Land nur aus den Ferien kennen. Erdogan, so Canver Aver von der Universität Duisburg Essen, gebe ihnen eine »emotionale Heimat«,etwas, was sie in Deutschland vermissen. Kein Wunder, dass Erdogan hier Traumergebnisse erzielt. In Essen erhielt er 77 % Zustimmung, in Berlin sind es nur 49 % .

Wenn Ausgrenzung Selbstvertrauen schafft

Can Dündar schreibt dazu: »Erdogan ist es gelungen, jenen Menschen, die sich in Deutschland seit Jahren ausgegrenzt fühlen Selbstvertrauen zu geben. Er vermittelt ihnen, dass »die Deutschen neidisch auf die Türken sind.« Er hat ihnen eine Identität gegeben. Das ist früheren türkischen Politikern und der deutschen Regierung nicht gelungen.

wIRTSCHAFTLICHER zUSAMMENBRUCH NACH DER wAHL ERDOGANS

Und warum äußern sich deutsche Politiker so selten zur demokratiefeindlichen Türkei? Herbert Reul, der Innenminister in NRW sagt es ganz klar: »Man darf nicht vergessen dass die türkische Politik uns auch in der Frage Flüchtlingsströme geholfen hat, dass die Belastung für die Bundesrepublik Deutschland nicht so groß geworden ist, wie sie hätte werden können.« Egal, was passiert, Erdogans Anhänger bleiben ihm treu. Der britische Economist prophezeit den wirtschaftlichen Zusammenbruch nach der Wahl Erdogans. Doch bislang bleibt dieser aus. Im Gegenteil: Der türkische Leitindex Borsa Istanbul 100 ((BIST 100= notiert kurz nach der Wahl ein Plus von 10 % Die türkische Lira ist zwar um vier % schwächer geworden, aber diese Schwäche war zu erwarten.

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